«In Aargauer Gemeinden sind die Rentner an der Macht – das hat Vorteile, birgt aber eine Gefahr»

Durch diesen Artikel in der Aargauer Zeitung vom 13.1.2020 (Link zu Artikel) wurde ich inspiriert, über meine Wahrnehmungen im Milizsystem zu schreiben.

Aufgrund meiner Erfahrungen stellten sich mir folgende Fragen, denen ich in diesem Beitrag nachgehen möchte:

  • Spielt die Altersdurchmischung eines Gremiums eine Rolle?
  • Wie soll die Mitgliederstruktur (Mischung zwischen «Wirtschaft–Miliz–Gesellschaft») aussehen?
  • Welche Kompetenzen und Fähigkeiten sind gefragt?
  • Was bewirkt der Faktor Zeit?
  • Welche Entlöhnung wird erwartet und kann geleistet werden?
  • Wie wird die Tätigkeit von Menschen im Milizsystem in der Bevölkerung wahrgenommen?

Meine Engagements im Milizsystem

Als ehemalige OK-Präsidentin der 725-Jahr-Jubiläumsaktivitäten der Gemeinde Niederlenz und seit knapp drei Jahren als Mitglied der Kieswerkskommission der Ortsbürgergemeinde Niederlenz, bin ich seit einigen Jahren Teil des Milizsystems und darf täglich Erfahrungen und Eindrücke in diesem System sammeln. Die Gründe, wieso ich diese Herausforderungen angenommen habe, sind unterschiedlicher Art:

OK Präsidentin 725 Jahre Niederlenz 2015/2016 (OK 725):

  • Als Familienfrau und Suchende nach neuen Herausforderungen, kam die Anfrage zur Mitarbeit im «OK 725» passend. Ich war im Findungsprozess für einen neuen Job, überlegte mir aber gleichzeitig, ob ich mich selbstständig machen soll. Für die Selbständigkeit fehlte mir dazumal das nötige Selbstvertrauen und ein Netzwerk in der Region Lenzburg. So kam diese Anfrage zum richtigen Zeitpunkt.

Mitglied und Präsidentin der Kieswerkskommission der Ortsbürgergemeinde Niederlenz (KiKo)

  • Nach erfolgreichem Abschluss der 725-Jahr-Jubiläumsaktivitäten wagte ich den Sprung in die Selbstständigkeit und gründete mein eigenes Unternehmen RAUM360. Im Januar 2017 wurde ich vom Gemeinderat angefragt, ob ich Interesse hätte, nebst der Familie und meinem Unternehmen, in der Kieswerkskommission mitzuwirken und meine Kompetenzen als Projektleiterin einzubringen.
  • Als ehemalige Hochbauzeichnerin und langjährige Mitarbeiterin bei ABB war mir der Umgang mit Menschen aus der Bau- und Industriebranche geläufig und es freute mich sehr, dass mir die Mitarbeit in der Kommission zugetraut wurde.
  • Es ist mir wichtig, auch weiterhin mein Wissen und Können in der Gemeinde zum Wohle der Gesellschaft einzubringen.

Anforderungen und Herausforderungen an die Arbeit im Milizsystem

Anhand meiner eigenen Erlebnisse aus dem OK 725 und der KiKo erläutere ich folgend meine Erfahrungen:  

  • Altersdurchmischung: Bis Ende 2018 sah die Altersverteilung in der KiKo wie folgt aus: zwei Mitglieder waren über 65 Jahre alt, ein Mitglied über 55 Jahre und ich war das jüngste Mitglied mit 46 Jahren. Seit Oktober 2019 besteht die Kommission aus drei Personen zwischen 39 und 47 Jahren sowie einem Mitglied über 55 Jahre. Da der strategische Zeithorizont in der KiKo zwischen 20–25 Jahren liegt, ist die Mitwirkung von verschiedenen Generationen sehr wichtig. Neue Generationen bringen neue Ideen. Sie bringen einen Perspektivenwechsel und sehen die anzugehenden Themen mit anderen Augen. Wer weiss, vielleicht können sie auch Pionierarbeit leisten und bestehende Muster aufrütteln.
  • Flexible Arbeitszeiten: Der Faktor Zeit ist einer der ausschlaggebenden Aspekte bei der Akquisition von neuen Mitgliedern. Nach längerem Suchen und aufklärenden Gesprächen fanden sich obgenannte jüngere Personen, welche durch ihre Tätigkeiten als selbständige Unternehmer und Angestellte in beweglichen Unternehmen genügend Zeit und Flexibilität in die Planung und Ausführung der Kommissionsarbeiten mitbringen können.
  • Wissen und Können: Nebst dem Faktor Zeit ist es sehr wichtig, dass die Mitglieder den Arbeiten und Projekten entsprechende Kompetenzen und Fähigkeiten aufweisen und ihr Wissen in die Kommissionsarbeit einbringen. Somit können der hohe Standard und die immer höher werdenden Anforderungen des schweizerischen Milizsystems aufrechterhalten werden.
  • Unterschied zwischen Wirtschaft und Milizsystem: Die Projektabläufe und Entscheidungsprozesse unterscheiden sich zeitlich sehr von denjenigen in der Wirtschaft. Geht doch nicht alles so schnell vonstatten und die Prozesse sind sehr träge. Entscheidungen können nur unter Einhaltung klar definierter Abläufe gefällt werden und meistens nur vom Gemeinderat oder der Gemeindeversammlung. Dies hat zur Folge, dass sehr viel Geduld benötigt wird, um Projekte zum Ziel zu bringen. Nicht jede Person ist geduldig genug. Meine Erfahrung zeigt aber, dass ältere, erfahrenere Menschen, meist mehr Geduld mitbringen als unerfahrene, jüngere Menschen. In meinem Fall wird sich dies noch zeigen. Bislang kann ich gut mit der Situation umgehen.
  • Entlöhnung/Wertschätzung: Junge Menschen mit familiären Verpflichtungen haben meist nicht die Möglichkeit, auf ein Einkommen aus einem Unternehmen zu verzichten und sehen sich daher nicht in der Lage, nebst dem normalen Arbeitspensum auch noch ein 10–30%–Pensum in einem Milizsystem anzunehmen. Die Gemeinden sind meist nicht in der Lage, eine äquivalente Entlöhnung zu gewährleisten. Sie sind auf Mitglieder angewiesen, welche die Tätigkeit im Milizsystem als Nebenverdienst oder Sackgeld sehen oder sogar gänzlich auf den Verdienst verzichten. Umso wichtiger erscheint es mir, dass die Wertschätzung auf eine andere Art und Weise gewährleistet ist. Sei dies mit wertschätzender Führung, konstruktivem Feedback, persönlichen Danksagungen, Übergabe von Verantwortung oder vielleicht auch einmal mit einer Einladung zu einem Event.
  • Öffentlichkeitsarbeit: Die Mitglieder von Kommissionen betreiben mit ihrer Arbeit Öffentlichkeitsarbeit für die Gemeinde. Sie repräsentieren mit ihrem Tun die Gemeinden. So war es mir als OK Präsidentin der 725–Jahr–Jubiläumsaktivitäten sehr wichtig, dass die Gemeinde sich von ihrer besten Seite präsentieren darf. Das Gesamtziel: «Der Bevölkerung von Niederlenz und Umgebung Raum zu bieten, sich zu begegnen, sich auszutauschen, sich zu präsentieren, gemeinsam erfolgreich zu sein und vor allem Spass und Freude zu haben» konnte vollumfänglich erreicht werden. Heute wird noch sehr viel Positives über die Anlässe erzählt und man erinnert sich gerne an die Erlebnisse. Ein grosser DANK geht an alle, die auf irgendeine Art und Weise daran mitgearbeitet haben.

Erkenntnisse

Alle obgenannten Punkte beruhen auf Wahrnehmungen aus meiner über 25–jährigen Erfahrung im Führen von ehrenamtlichen, unternehmerischen und familiären Projekten. Die verschiedenen Menschentypen sind unterschiedlicher Natur, aus diesem Grund können folgende Erkenntnisse nicht auf alle übertragen werden. Es gibt geduldige und ungeduldige Menschen, Persönlichkeiten, die ein 100%–Pensum haben und trotzdem ehrenamtlichen Arbeiten nachgehen und andere, die alle Tätigkeiten ohne finanziellen Entgelt ausüben.

Meine persönlichen Erkenntnisse auf den Punkt gebracht:   

  • Eine gesunde Durchmischung der Altersgruppen ist sehr wichtig. Dies vor allem, um die verschiedenen Denkweisen und Erfahrungen in die Ämter zu integrieren.
  • Es benötigt eine Vielfalt in der Mitgliederstruktur. Menschen, die in der Wirtschaft tätig sind, solche die einer anderen Beschäftigung nachgehen und andere, die nur im Milizsystem tätig sind. Somit kann der Wissensaustausch zwischen den Welten «Wirtschaft–Miliz–Gesellschaft» gewährleistet und wertvolle Synergien genutzt werden.
  • Die Aufgaben sollen den Kompetenzen und Fähigkeiten der Mitglieder entsprechend koordiniert und aufgeteilt werden. Ebenfalls müssen die Verantwortungen klar festgelegt und kommuniziert werden.
  • Die immer komplexer werdenden Aufgaben und die daraus resultierenden hohen Zeitaufwendungen können neben einem 100%–Job nur mit viel persönlichem Engagement in Angriff genommen werden. Hierfür benötigt es viel Willenskraft und ein hohes Zugehörigkeitsgefühl zur Gemeinde.
  • Die Entlöhnung kann im Milizsystem nicht im Vordergrund stehen. Sie soll aber die Arbeit wertschätzen und sie sollte angemessen gewährleistet werden.
  • Es benötigt dringend eine wertschätzende Führung, welche die Mitglieder motiviert, ihr persönliches Engagement zu leben und somit nebst den täglichen Herausforderungen Höchstleistungen erbringen zu können. Auch die Wertschätzung aus der Bevölkerung kann sehr motivierend sein.

Persönlich schätze ich die Herausforderungen meiner Arbeit als Präsidentin der Kieswerkskommission sehr und lerne täglich aus den Erfahrungen.

In diesem Sinne allen, die in einem Milizsystem tätig sind, viel Spass und positive, erfolgreiche Erlebnisse.